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Zusammenfassung des Aufsatz von Dennis Werner:


Die Evolution der männlichen Homosexualität und ihre Implikationen für die menschliche Psychologie und kulturelle Varianten

 


Dass männliche Homosexualität beim Menschen eine genetische Grundlage hat, davon sind die meisten Biologen überzeugt. Allerdings kann sie nicht als genetische Krankheit gelten wie etwa das Down-Syndrom, denn genetische Fehlentwicklungen (sogenannte maladaptive) betreffen kaum ein Prozent der Bevölkerung. Homosexuelle Männer gibt es aber viel häufiger. Dennis Werner, der Autor,  ist weit davon entfernt, die schier unüberschaubare Vielfalt von homosexuellen Verhaltensweisen als kulturelle Ausprägungen zu negieren. Vielmehr sucht er nach ihren gemeinsamen Grundlagen.
Und die sind in der Evolution zu suchen. Männliche Homosexualität erben wir nicht nur von gemeinsamen artengeschichtlichen Vorläufern, die wir uns mit anderen Primaten wie etwa den Bonobos teilen. Dennis Werner weist vielmehr vergleichbares Verhalten schon bei  denentwicklungsgeschichtlich viel früher entstandenen Fischen und Insekten nach. In einem der angeführten Beispiele schleicht sich ein als Weibchen verkleidetes (transvestitisches) Männchen ins Territorium eines anderen ein, um dessen Weibchen zu befruchten bzw. ihn dazu zu verführen, Samen ins Leere abzugeben. Oder bei den Bettwanzen spritzt ein Männchen einem anderen seinen Samen in den Samenausgang, so dass der die nächsten Weibchen mit den Spermien seines Vergewaltigers befruchtet.
Mit der Hervorbringung immer komplexerer Tierarten werden auch die Erscheinungsformen von männlicher Homosexualität vielfältiger, in besonders starkem Maße bei den Säugetieren und vor allen bei deren gruppenbildenden Arten. Beim Zusammenleben in einer Gruppe ist nämlich der Widerspruch zwischen Abweisung von Konkurrenten und der Akzeptanz von nicht verwandten männlichen Gruppenmitgliedern auf gleichem Territorium zu lösen. Das geschieht durch die Bildung von Dominanzhierarchien, an der auch genetische Prädispositionen beteiligt sind, also Gene, die Unterwerfungsbereitschaft und Dominanzbestreben in den Individuen vorprägen.
Werners These zur Evolution der männlichen Homosexualität geht davon aus, dass die genetische homosexuelle Disposition mit der Disposition zur Hierarchieeinordnung in ähnlicher Weise miteinander verknüpft ist, wie die genetische Veranlagung zur Sichelzellenkrankheit und Malaria. Beide Dispositionen überlagern sich derart, dass einige Individuum nur die Sichelzellenkrankheit bekommen, andere nur Malaria, während die, die die Disposition für beides in sich tragen, nur ihre Genkombination weitergeben, ohne krank zu werden. Sie erzeugen aber - entsprechend der naturgesetzlichen Verteilung von Vererbungswahrscheinlichkeit - Nachkommen mit allen drei Prädispositionsmöglichkeiten. So könnte es sich auch mit der Verteilung genetischer Faktoren für Homosexualität einerseits und für Dominanzstreben andererseits verhalten. Extrem dominante, die am äußersten Rand der Verteilung liegen, sind nicht homosexuell und entsprechend extrem homosexuelle sind nicht dominant, oder andersherum: extrem Unterwürfige verhalten sich nicht heterosexuell. Zwischen diesen Extremen finden sich alle anderen Kombinationen, d.h. sowohl das Mittelfeld der Hierarchien in der einen Dimension als auch alle Varianten von Bisexualität in der anderen.
Homosexuelle Menschenmänner stehen in der evolutionären Erbfolge der vor Jahrmillionen entstandenen oben erwähnten Mann-Mann-Vergewaltigung und transvestitischer Teuschungstaktik,. Sie sind die Vorläufer, aus denen sich  in abgewandelter Funktion zwischenmännliche Unterwerfungs- und Dominanzrituale herausbildeten, die ungemein vielfältige Varianten homosexueller Verhaltensweisen umfassen. Werner verweist dazu auf zahlreiche Forschungsberichte über Primaten.
Da Arten, die durch evolutionäre Selektion Gruppenbildung als Anpassung entwickelt haben, schaffen sich notwendigerweise Hierarchieordnungen in Verbindung mit homosexuellen Verhaltensweisen, die als Rituale zur Etablierung und zum Erhalt dieser hierarchischen Ordnung dienen. Werner kommt so zu der schlüssigen aber beeindruckenden Feststellung: Homosexualität ist kein Nebenprodukt der Entwicklung der Arten, sondern vielmehr ein Grundelement für die Entstehung von Gesellschaft und damit eins der wichtigsten Themen in der Evolution.
Nun gibt es zahlreiche Forscher, die Homosexualität ausschließlich als Produkt von Kultur verstehen. Nach ihren Vorstellungen sind es die verschiedenen Kulturen, die vielfältigen Formen von homosexuellem Verhalten konstruieren. Darum zählen diese Forscher zur Fraktion der ‚Konstruktivisten‘ in der Homosexualitätsforschung, im Gegensatz zu den biologisch- genetisch orientierten ‚Essenzialisten‘.
Um ‚Konstruktivisten‘  und ‚Essenzialisten‘ mit einander verträglich zu machen, durchforstet Werner nun die zahlreichen Berichte über homosexuelles Verhalten in den Kulturen verschiedener Gesellschaften auf Gemeinsamkeiten. Er arbeitet heraus, dass sich offenbar ausnahmslos in allen Kulturen gewisse Männer mit homosexuellem Verhalten finden, die vorzugsweise passive Rollen einnehmen und von allen anderen Männern deutlich abgegrenzt, meistens diskriminiert oder misshandelt werden. Diese besonderen Homosexuellen nennt er ‚pathics‘, Pathische, also Erdulder, in die - im Gegensatz zu den aktiven Sexualpartnern - eingedrungen wird, bzw. die in sich eindringen lassen. Bemerkenswerterweise werden in vielen Kulturen demgegenüber die aktiven Partner, mit denen die Pathischen homosexuellen Kontakt haben, nicht diskriminiert. Oft gibt es für letztere gar keine Bezeichnung, ja, sie werden nicht einmal als homosexuell angesehen.
Das Auftreten der Pathischen in allen auf homosexuelles Verhalten untersuchten Kulturen weist daraufhin, dass es sich dabei um eine humangenetische Disposition und nicht um eine willkürliche kulturelle Erscheinung handelt. Dieser Befund wird noch dadurch bestärkt, dass in den meisten Völkern Eltern schon früh ein Kind als schöneres Baby im Vergleich zu seinen Geschwistern empfinden, was sich als Vorzeichen für seine spätere homosexuelle Orientierung erweisen kann, oder dass Befragte eines Volkes selber die Beobachtung machen, dass aus einigen Familien mehr effeminierte Männer hervorgehen als aus anderen.
Überhaupt erweisen sich frühe Vorzeichen in der Kindheit, zum Beispiel wenn ein Junge lieber Aufgaben von Mädchen übernimmt, vorzugsweise mit Mädchen spielt oder gar ein Mädchen sein will, als zuverlässige Hinweise auf eine homosexuelle Neigung im Erwachsenenalter.
Werner folgt einer schon vor 40 Jahren vorgeschlagenen Gruppierung von Kulturen nach Homosexualitätssystemen in 1.) das genderorientierte System, das Sexualbeziehungen zwischen transvestitischen und maskulinen Homosexuellen umfasst, 2.) das altersorientierte System von Beziehungen älterer mit jungen Homosexuellen und schließlich 3.) das egalitäre System gleichrangiger Beziehungen von Homosexuellen, wie sie unter Schwulen der neueren westlichen Kulturen üblich sind.
Um die Verknüpfung von Dominanzverhalten mit Homosexualität auch beim Menschen deutlich zu machen, zieht Werner als Beleg die emotionalen Flüche von der Art ‚leck mich am Arsch‘, ‚Arschkriecher‘ heran, die aus dem entwicklungsgeschichtlich älteren Gehirnschichten in unser rationaleres Großhirn aufsteigen, und zwar meistens bei Gelegenheiten, bei denen es um Unterwerfung oder Selbstbehauptung geht. Sie   erinnern direkt an Besteigungen der Primaten als Dominanzrituale zur Festigung von Hierarchiepositionen.
Im weiteren geht Werner der Frage nach, wie veränderte Produktionsformen, die statt auf ungelernte Arbeiter auf ausgebildete und höher qualifizierte Berufsgruppen angewiesen sind, auch die sexuelle Einstellung der Männer beeinflusst. Diese Veränderungen müssen sich konsequenterweise ergeben, wenn Homosexualität an Einordnungsverhalten in Hierarchien gebunden ist. Als Beleg dafür führt Werner eine Studie an, die zeigt, dass maskuline Männer der ungelernten Arbeiter mehr homosexuellen Kontakt haben als die der Mittelschicht und dass Bisexuelle der Unterschichten eher der Auffassung sind, „Vorwärts zu kommen, hängt mehr davon ab, wen du kennst, als davon, was du kennst“ als Bisexuelle der Mittelschicht. (Sich ‚hochzuschwänzeln‘ durch private Beziehungen hat also bei höheren Skillanforderungen weniger Erfolgsaussichten).
Im letzten Absatz seines Aufsatzes kommt Werner auf die Moralität homosexuellen Verhaltens zu sprechen. Dass etwas für natürlich oder unnatürlich gehalten wird, gilt absurderweise bei den einen als Beweis dafür, dass es gut, während andere damit genau gegenteilig begründen, dass es böse ist.  „Dennoch“, so schreibt Werner gegen Schluss seines Aufsatzes,  „mag es eine Verknüpfung geben zwischen der Wahrnehmung von Moral, die wir gegenwärtig haben (nicht notwendig haben sollten) und der Homosexualität. An anderer Stelle habe ich erklärt, dass es die Evolution von Hierarchien ist, die hinter dem steht, was wir als Moral wahrnehmen. Insbesondere zeigen psychologische Experimente, dass Leute eher moralisches Unbehagen empfinden, wenn sie ihren Platz in der Hierarchie bedroht fühlen, als dadurch, dass eine unfaire Handlung verübt wurde. Auch wie stark die Art und Weisen, sich gegenüber seinen Göttern zu verhalten, mit den Weisen korreliert, sich gegenüber Institutionen, die Macht über uns haben, zu verhalten, legt nahe, dass die Evolution von Hierarchien wohl auch hinter den religiösen Glaubenssystemen steht.
Moralität hat damit zu tun, seine eigenen Interessen zugunsten des Wohlbefindens anderer aufzugeben. Menschen sind zu solcher Aufgabe fähig, weil sie in ihrer evolutionären Vergangenheit gelernt haben, lieber einmal nachzugeben, als aggressiv die eigenen Interessen zu verteidigen. Wenn das Hierarchie/Kooperation-Argument richtig ist, dann hängt die Evolution der Moralität von der Evolution der Homosexualität ab. Das mag bizarr klingen. Wenn sich aber Homosexualität an der Basis von Moralität befindet, warum werden dann die ausschließlich homosexuellen Männer an so vielen Orten mit Schmutz beworfen? Ich denke, die Antwort ist einfach: Sie lassen sich so leicht misshandeln, weil sie im allgemeinen eher als andere dazu bereit sind nachzugeben.
Dieser Widerspruch zwischen dem, was wir als moralisch definieren und dem, wie wir diejenigen behandeln, die höchstwahrscheinlich zugunsten anderer ihre Interessen aufgeben, ist möglicherweise einer der größten Widersprüche in der menschlichen Gesellschaft. Er verdient einen Namen, der mindestens so eingängig ist wie der Ödipuskomplex, obwohl es kein individueller psychologischer Komplex ist, sondern vielmehr ein sozialer. Wenn er wirklich so wichtig ist, wie meine Argumentation nahelegt, dann kann ich mir vorstellen, dass dieser Komplex auch in Mythen der Menschheit zum Ausdruck kommt. Es gibt tatsächlich dafür mehrere Beispiele:  Die Kayapo-Indianer kennen die Geschichte von einem Jungen, der Männerarbeit verabscheute und von einem Fledermausmann vergewaltigt wurde, was ihm zum Kichern brachte, zum ersten Lachen überhaupt, das zwar eines Kriegers unwürdig, aber lebensnotwendig ist. Bei den Cashinuaha gibt es eine Geschichte über einen großen transvestitische Künstler, der den Indianern das Malen beibrachte, der aber sterben musste, weil er von einem Liebhaber geschwängert wurde, das Baby aber nicht geboren werden konnte. Doch die am besten passende Geschichte liegt praktisch vor der Haustür. Die Geschichte von Jesus ist die Geschichte von einem Mann der seine andere Wange hinhielt statt zu kämpfen, der mit anderen Männern nicht um Frauen wetteiferte und am Ende misshandelt wurde. Vielleicht werden Menschen eines Tages diesen Jesuskomplex zu begreifen lernen, und die Dinge werden sich ändern. Dann wird vielleicht Jesus‘ Prophezeiung erfüllt werden: „Gesegnet sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen“.
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Werner  Dennis ist emeritierter Professor  für Anthropolgie  an der Santa Catarina State University, Brasilien, u.a. war er 1 Jahr Gastforscher am Hamburger Institut für Humanbiologie.
Der Aufsatz entstammt dem von Volker Sommer (Professor für Evolutionary Anthropologie am University College London) und Paul A. Vasey (Assoziierter Professor im Department of Psycology and Neuroscience an der University of Lethbridge, Alberta, Canada) herausgegebenen Sammelband Homosexual Behavior in Animals – An Evolutionary Perspective, Cambridge 2006