Referat über Kapitel 4: Die Moral der Lust
aus dem Buch Die Politisierung der Lust
von Dagmar Herzog
In diesem Referat möchte ich Ihnen Dagmar Herzogs Darstellung, Interpretation und Kritik an der westdeutschen Sexualrevolution der APO/Studentenbewegung näherbringen, wie sie in Kapitel 4 ihres Buchs „Die Politisierung der Lust" von 2005 zu lesen ist.
Dabei möchte ich Ihre eigenen Erinnerungen an die achtundsechziger bis siebziger Jahre durch kleine autobiografische Einsprengsel wecken. Und ich will Ihnen meine Kritik an Herzogs Sichtweise und ihrer Beurteilung der westdeutschen Sexualrevolution darlegen. Wir haben vier Ebenen der Geschichtsbetrachtung zu verfolgen:
1. die Ebene meiner (und möglicherweise Ihrer eigenen) Erinnerung an einschlägige Ereignisse und Positionierung in der Sexualrevolution der westdeutschen Linken. (Text im Referat farblich hervorgehoben)
2. die Ebene der Quellen, die Herzog aus damaliger Zeit und über diese Epoche heranzieht.
3. die Ebene von Herzogs nachträglich im Jahre 2005 veröffentlichten Interpretation. Und schließlich
4. die Ebene meiner Anmerkungen dazu aus heutiger Sicht. (Ebenfalls im Referat farblich hervorgehoben)
Ich bitte Sie, diese Ebenen während des Referats nicht aus dem Auge zu verlieren, zumal ich daran nicht die Gliederung des Vortrags ausrichte. Vielmehr folge ich Herzogs Textstruktur.
Das Kapitel 4 von Herzogs Buch mit dem Titel “Die Moral der Lust“ gliedert sich in 5 Abschnitte.
A) Die sexuelle Revolution (S.173 - 182)
Zur Darstellung der sexuellen Revolution in Westdeutschland Mitte der sechziger Jahre führt Herzog die wichtigsten Auslöser und Träger an:
• massenhafte Verfügbarkeit von verlässlichen Verhütungsmitteln,
• Werbung mit Abbildungen nackter Frauen,
• boomende Pornografie in Bild und Text.
„In allen Teilen der westlichen Welt, in Europa wie in den USA entwickelten junge Leute Gegenkulturen, griffen Trends zur sexuellen Liberalisierung auf und trieben sie energisch voran“. (Seite 173).
Doch in Westdeutschland hatte die sexuelle Revolution ihre Spezifika aufgrund der Auseinandersetzung mit dem Erbe des Dritten Reichs.
„Die westdeutschen Debatten über Sexualität wurden mit besonderer Vehemenz und Wut geführt, und die sich daraus ergebenden sozialen Veränderungen verliefen außerordentlich dramatisch.“ (Seite 174)
Die neue Freizügigkeit schlug sich in Gesetzesreformen zu Ehebruch, Scheidung, männlicher Homosexualität, Pornografie, Prostitution und Abtreibung nieder. Herzog geht auch der Thematisierung von Sexualität nach in Filmen wie Ingmar Bergmanns Schweigen, Oswald Kolles Aufklärungsklassiker und dem Schulmädchenreport nach.
Ich hätte auch noch „Zur Sache Schätzchen“ von May Spils aus dem Jahr 1968 in der Aufzählung erwartet und andere Werke des sogenannten Jungen deutschen Films der sechziger Jahre. Zu erwähnen ist m. E. auch beispielsweise das Oberhausener Manifest von 1962, das als Trendwende der bundesdeutschen Filmkultur nach dem Zweiten Weltkrieg angesehen wurde. Auch die Romane wie die von Günter Grass aus den End50er und 60er Jahren zeichnen sich durch eine provokative Direktheit in Schilderungen sexueller Szenen aus, die in der deutschen Literatur ungewohnt war.
Von der Historikerin wird das leider übergangen. Für mich waren solche Denkanstöße aus Literatur und vor allen aus Filmen schon vor meiner Politisierung von großer Bedeutung. Bergmann, Viskonti, Fellini, Pasolini, Truffault und Fassbinder und viele andere bedeutende Filmemacher wirkten auf mich als Teenager sexualerzieherisch prägend.
Kein Wunder also, dass ich 15 Jahre später mit hessischen Filmfördergeldern selbst einen Kurzfilm über das Aufkeimen des sexuellen Begehrens drehte.
Dagmar Herzog nimmt Bezug auf die Erfolgsgeschichte von Beate Uhses Versandgeschäft von Sex-Produkten und den boomenden Sexshops und Pornopublikationen. Von diesem Bombengeschäft profitierten auch „eine ganze Reihe respektabler Organisationen quer durch das ideologische Spektrum – von den Gewerkschaften .... bis hin zu einigen katholischen Verlagen“. (Seite 179)
Experten kamen allerdings zu der ernüchternden Einschätzung, dass dadurch zwar die Fantasien der Westdeutschen lebhafter geworden seien, „nicht jedoch die tatsächliche Praxis“ (Seite 180). Dem entgegengesetzt zitiert Herzog den Spiegel von 1971, der die Erkenntnisse der Sexologen zusammenfasst: „In den vergangenen 4-6 Jahren hat sich das Sexualverhalten der deutschen Jugend so verändert wie nie zuvor in diesem Jahrhundert." (Seite 181)
B) Kampfansage an die Kirchen (S.182- 187)
Die katholische und die evangelische Kirche gaben im Dezember 1970 eine gemeinsame Erklärung gegen die sexuelle Revolution ab. Doch keiner hörte mehr den Warnungen zu. Der Spiegel forderte die Kirchen auf, ihre Scheinheiligkeit einzugestehen, vorehelichen Sex zu untersagen, wo doch ein Drittel der Ehen vor dem Altar mit Schwangeren geschlossen wurden.
Wenn die Kirchen überkommene Familienwerte ins Spiel brachten, sahen sie sich dem Vorwurf ausgeliefert, faschistisch zu sein. Dagmar Herzog führt als Beispiel harscher Kirchenkritik die Studie des Journalisten Karl-Heinz Deschners an: Das Kreuz mit der Kirche: Eine Sexualgeschichte des Christentums. Er „führt unzähligen Beispiele an, wie christliche Wortführer im Westdeutschland der Nachkriegszeit, unbeeindruckt von ‚Millionen Toten‘ in den beiden Weltkriegen und in Vietnam sich weiter so verhielten, als seien Sex, Nacktheit und Pornografie die wichtigsten moralischen Herausforderungen.“ (S.184) Herzog lässt Deschner weiter mit dem Resümee zu Wort kommen: "Denn das eigentliche Verbrechen in der christlichen Kultur ist eben durchaus nicht der Mord, sondern cum grano salis der Geschlechtsverkehr". (S. 184).
„Gunther Amendt hielt die Autoren der evangelischen und katholischen Sexualberatungsbücher sogar für ‚Sexualverbrecher‘, weil sie die Lust dämonisierten und Schuld- und Schamgefühle schürten“ (Seite 187). Weiter referiert Dagmar Herzog, wie nun auch die Kirchen versuchen, sich dem neuen Klima anzupassen und jetzt für ein neues Scheidungsrecht, vorehelichen Sex und für mehr Würdigung des Sexes in der Ehe plädieren. Im Jahr 1971 veröffentlichte eine offizielle Kommission der evangelischen Kirche eine Denkschrift zu Fragen der Sexualethik. „Die Kommission ging sogar so weit, für vorehelichen Geschlechtsverkehr den Gebrauch von Verhütungsmitteln zu empfehlen" (Seite 185) oder jungen Gemeindemitgliedern gar Räume für sexuelle Betätigung zur Verfügung zu stellen.
Angesehene westdeutsche Katholiken stellten sich gegen die katholische Hierarchie zur Liberalisierung der kirchlichen Lehren. Andere geißelten die „Verlogenheit und Falschheit, die aus dem den Priestern auferlegten Zölibat folge.“ (Seite 186). Die Kirchen blieben dennoch auf verlorenem Posten.
1967 trat ich dem SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) in Heidelberg bei und war in der Basisgruppe ev. Theologie aktiv, als ich im siebten Semester Theologie studierte. Wir waren besonders kirchenkritisch und weckten damit das Interesse der Wochenmagazine. Als der Spiegel über aufmüpfige Heidelberger Theologiestudenten und ihre Flugblätter berichtete, fragte mich der vor Ort recherchierende Spiegel-Journalist, ob er meinen Namen in seinem Artikel nennen dürfte.
Ich stimmte zu.
Kurze Zeit nach der Veröffentlichung erhielt ich Besuch von einem offiziellen Vertreter meiner, der westfälischen Landeskirche. Der Beauftragte war für die Betreuung der fürs Pfarramt Auszubildenden seines Landesbezirks zuständig. Kein Zweifel, er wollte mich los werden und bot mir nach verständnisvollen aber grenzziehenden Worten ein kleines Übergangsstipendium für ein paar Monate an, um mir den Wechsel in ein anderes Studium zu erleichtern. Ob er damals meine per Flugblatt verteilten Einlassungen über den Zusammenhang von sexueller Unterdrückung und Religion gelesen hatte, weiß ich nicht. Zu einer inhaltlichen Diskussion zwischen uns kam es jedenfalls nicht mehr. Ich nahm sein Angebot an und begann, Mathematik zu studieren. Ich zog damit die Konsequenzen aus den sexualrevolutionären Erkenntnissen unserer Bewegung. Im Unterschied zu meinen Theologie-Kommilitonen sah ich keine Reformierungsmöglichkeit für die Kirche und somit keine berufliche Perspektive mehr. Die christlichen Religionsmythen waren für mich dank meines Studiums durchschaubar und wirkungslos gewordenen. Damit war in meinem Bewusstsein auch der repressiven Sexualethik die Grundlage entzogen, von deren Verinnerlichung ich mich zu befreien hatte.
C) Lest Wilhelm Reich und handelt danach! S.187-198
Dagmar Herzog stellt fest, dass die Debatten über Sexualität in Deutschland in einzigartiger Weise durch die Bewegung der Neuen Linken bestimmt wurden. Der Einfluss von APO und Studentenbewegung war beträchtlich. Ihre Ansichten wurden von Medizinern, Sexologen, Psychologen, Pädagogen, Juristen, Soziologen und Theologen Schritt für Schritt übernommen. Jugendlichen Räumlichkeiten und Gelegenheit für Sex einzuräumen, wurde breit diskutiert und Verständnis für Ehebruch entwickelt. Pornografie wurde von einigen Sprechern sogar als schadlos für Kinder und Jugendliche angesehen, solange sie Sexualität als lustvolle soziale Aktivität ohne Vorurteile schilderte. (Seite 188).
Einschlägigen Autoren wie Schmidt, Sigusch, Dannecker und Reiche verteidigten die Rechte der Homosexuellen.
Gegen die bisher von normativen Vorstellungen durchzogenen Sexualforschung der Fünfzigerjahre stand nun der Empirismus in der Sexualwissenschaft. Man wollte herauszufinden, wie sich die Menschen tatsächlich verhielten.
Die Linke grenzte sich jedoch ab von der breiten Sexwelle. Günter Amendt verspottete die Anleitungen Kolles und Beate Uhses zur Sex-Gymnastik und griff die Ehe als repressive Institution an. Uneinigkeit herrschte allerdings in revolutionären Kreisen über den (bürgerlichen) Wert der Treue. Man war überzeugt, dass „eine befreite Sexualität nur im Verbund mit progressiver Politik möglich ist.“
Adorno, Lehrmeister vieler linken Studentenführer, sagte: „Sexuelle Freiheit ist in einer unfreien Gesellschaft so wenig wie irgendeine andere zu denken.“ (Seite 191).
Für die Linken, so Dagmar Herzog, war der Holocaust ein pervertiertes Produkt sexueller Repression und sexuelle Befreiung ein antifaschistisches Gebot. Die autoritäre Kleinfamilie wurde als die Ursache für sadomasochistische Triebstrukturen angesehen, die die Deutschen zu einem Volk von rassistischen Mördern machten.
Aus dem Auschwitz-Prozess 1964 in Frankfurt ging die verstörende Erkenntnis hervor, dass diejenigen, die im KZ sadistische Orgien feierten, außerhalb des Lagers gewöhnliche Leute waren, die nie aus dem Rahmen fielen. Das spricht Dagmar Herzog an. (S.192)
Aber dass sie an dieser Stelle keinerlei Bezug auf Hanna Arendts Bericht über den Eichmann-Prozess in Jerusalem nimmt wundert mich. Offenbar passen Arendts berühmte Ausführungen über die 'Banalität des Bösen', also über eben jene profillose und konfliktfreie Ein-und Unterordnung von SS- und Parteifunktionären in die völkermordende Todesmaschine des Nationalsozialismus nicht in ihre Argumentation. Hannah Arendt provozierte ihre jüdischen Zeitgenossen mit der Erkenntnis, dass das massenmordende Böse nicht hinreichend an einem exponierten Täterindividuum namens Eichmann festzumachen und durch Verurteilung zu beseitigen ist, sondern sich systemimmanent in der Durchschnittlichkeit von Persönlichkeitsmerkmalen gehorsamer Befehlsempfänger und Gefolgschaften versteckt. Außerdem empörte sie ihre Zeitgenossen, dass sie mit Erschrecken feststellt, wie schwach der Widerstand der Juden in Europa gegen den organisierten Völkermord ausfiel.
Arendts Positionen passen insofern nicht in Herzogs Argumentation, als die Sexualhistorikerin der Ergründung des Bösen in der Persönlichkeitsstruktur, der sich die Achtundsechziger verschrieben haben, nicht folgt und dementsprechend darin auch keine Bewältigungsstrategie der 68er erkennen will.
Dagmar Herzog berichtet von Erich Fromms freudianischer Faschismustheorie, wonach der Nationalsozialismus mit einer relativen Schwäche der heterosexuellen Genitalität einherging. (S.193) Diese Theorie hinterließ bei den Linken großen Eindruck. Danach intensivierte die für die bürgerliche Familie typische Abneigung gegen Sexualität anale, phallisch-sadistische Tendenzen und förderte autoritär-masochistische und ambivalente, sadomasochistische Persönlichkeitsmerkmale. Die Männer würden dadurch für latente Homosexualität und Frauenfeindlichkeit anfällig. Herzog führt aus, dass die Linke daraus folgerte: „Zerschlagt die bürgerliche Kleinfamilie!“ (S.194)
Die Historikerin legt dar, dass die Linken Horkheimers Lehren, auf die sie sich berufen, nur selektiv übernahmen. Denn der Mitbegründer der Frankfurter Schule hatte darauf verwiesen, dass die Familie zu zerschlagen, gerade eine Zielsetzung der Nationalsozialisten gewesen war. Das aber schien die westdeutsche Linke nicht wahrhaben zu wollen.(S. 194)
Stattdessen (S.195) rezipierte sie gierig die Schriften Wilhelm Reichs „Die sexuelle Revolution“, „Die Funktion des Orgasmus“ und „Die Massenpsychologie des Faschismus“. Deren Kernthese war: Sexuelle Befriedigungsfähigkeit und Sadismus schließen sich gegenseitig aus, und „genitalbefriedigte Menschen" zeichnen sich durch Milde und Güte aus. Mit Recht fügt Herzog hinzu: „In den USA und anderen westeuropäischen Ländern gab es nichts vergleichbares“ (Seite 195). Sie stellt fest: „Reichs Ideen verliehen dem allgegenwärtigen Slogan „Make love, not war“ zusätzliche Legitimation." (Seite 196)
Herzog ist erstaunt über die Unerbittlichkeit, mit der man in der westdeutschen Linken, die Grenze zwischen privater und öffentlicher Sphäre niederriss. (S.197) Um die starke Ausrichtung der Bewegung auf die Ideen Wilhelm Reichs zu erklären, gibt Herzog zu bedenken: „Wir dürfen nicht vergessen, auf welche übertriebene Weise der Generation der achtundsechziger 'moralisch anständiges' Verhalten abverlangt wurde." (Seite 198).
So wohlmeinend Herzog die repressive Erziehung der Nachkriegsgeneration in Betracht zu ziehen scheint, so offensichtlich unterschlägt sie die Tatsache, dass durch den Krieg in Deutschland Familienstrukturen millionenfach zerstört worden waren und der Fluch von Massenvernichtung und totalem Krieg auch auf die eigene Brut niederging. Beispielsweise von der Auswirkung von Waisenhäusern auf die Triebstruktur zahlreicher betroffener Nachkriegskinder – für Ulrike Meinhof übrigens ein Hebel der Systemkritik – spricht sie nicht. Auch die Flucht– und Vertreibungserfahrung und die größtenteils erfolglosen Familienzusammenführung des Roten Kreuzes in den Fünfzigern bleiben unerwähnt. Die Auswirkungen dessen, was Herzog im vorangegangenen Kapitel 2 auf Seite 84 „die chaotischen Verhältnisse“ nach dem deutschen Zusammenbruch nennt und prägnant als „German Anarchy“ beschreibt, thematisiert sie lediglich in Bezug auf das Liebesleben der erwachsenen Kriegsgeneration. Sie erkennt sie aber nicht als prägend für die Sexual- und Persönlichkeitsentwicklung der Nachkriegsgeborenen. Die Geburtenjahrgänge der Jahre 1945 und 46, der auch ich angehöre, sind die schwächsten in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts und schlagen eine unübersehbare Kerbe in die bundesrepublikanische Alterspyramide. Herzog lässt bei der Darstellung der 68er Sexualrevolutionäre deren Vaterlosigkeit außeracht, die Alexander und Margarete Mitscherlich in ihren Publikationen Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Ideen zur Sozialpsychologie; 1963 und Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens; 1967 zur Gesellschaftsanalyse vorbringen. Die Ausblendung dieser Zusammenhänge von Triebstruktur und deutscher Nachkriegsgesellschaft führt Herzog u.a. zu Fehleinschätzungen der Holocaustverarbeitung in der Studentenbewegung, die sie ins Zentrum ihrer Charakterisierung der westdeutschen APO-Sexrevolte stellt.
Meine Kritik an Herzog betrifft nicht ihre Problematisierung der These, dass eine erst im Dritten Reich verschärfte sexuelle Repression in der Familie zum fatalen Massensadismus geführt habe. Wilhelm Reich (und auch die ihn rezipierenden Linken Sexualrevolutionäre) thematisieren nicht die Familienpolitik der NSDAP, sondern in freudianischer Manier den Zusammenhang von Persönlichkeitsstruktur und Entfaltung von Sexualität und dem daraus sich ergebenden sozialen Verhalten.
‚Die Massenpsychologie des Faschismus‘ kam im Jahr von Hitlers Machtergreifung heraus, also lange vor dem Genozid an den europäischen Juden und vor dem II. Weltkrieg. Die Nazis haben in zwölf Jahren Terrorherrschaft nicht die deutsche Familie zu Zuchtanstalten von Sado-Maso-Charakteren transformiert, sondern darin vielmehr den generationentief verwurzelten rassistischen Rückhalt für ihre fabrikmäßige Völkermordmaschine und den totalen Krieg gefunden.
Den Schriften Reichs zollten die Achtundsechziger besonderen Respekt, weil die Texte explizit für den Kampf gegen den sich in der Weimarer Republik etablierenden Faschismus geschrieben worden waren. Sie stellten das Authentischste dar, was aus der Klassenkampfperspektive zum antiautoritären Umdenken in den Sechzigern herangezogen werden konnte. Das waren keine Ex-Post-Analysen im Dienste taktisch inkonsequenter Entnazifizierungskampagnen. Die Rezeption von Reichs Schriften schärfte das Bewusstsein der Studentengeneration im Kampf gegen autoritäre Charaktere, die den Vietnamkrieg, den Militarismus im kalten Krieg und die Akzeptanz von Nazis im politischen System unterstützten. Auf diesem Hintergrund bildeten die linken Studenten beispielsweise in Heidelberg speziell in der medizinischen und der juristischen Fachschaft Basisgruppen, um die Parteinahme von Universitätsinstituten und Professoren im Dritten Reich aufzudecken. Davon ist bei Herzog keine Zeile zu lesen, obwohl es dazu zahlreiche Aktionen (Go-ins) und (Flugblatt-)Publikationen gab.
Zweifellos hatten wir uns in den 50ern gegen die Erziehungspraxis unserer Eltern zu wehren, die wiederum ihre Erziehung während des Aufstiegs des deutschen Faschismus erfahren hatten. Ein typisches Beispiel der alltäglichen Erziehungspraxis war: Wir Kinder mussten bei der Begrüßung eines Erwachsenen einen Diener machen und den Mund halten, wenn ein Erwachsener sprach.
Die Freudianisch/marxistische Faschismusanalyse kämpfte gegen Persönlichkeitsstrukturen des „anständigen“ Menschen, die schon lange vor Hitlers Machtergreifung in deutschen Familien angelegt waren. Die Durchsetzung von dem, was deutsche ‚Heil Hitler‘ rufende Familien unter normaler Sexualdisziplin verstanden, stand offenbar nicht der verschlossenen Auges uneingestandenen Genugtuung im Wege, die man bei der Beseitigung von jüdischen Nachbarn und Arbeitskollegen empfunden haben musste.
Wenn ein Familienvorstand in den Dreißigern und Kriegsjahren entschied, den Nazianweisungen möglichst zu gehorchen, seine Karriere und seine wirtschaftliche Existenz nicht zu riskieren, dann stieß er offenbar kaum auf innerfamiliale Kritik.
Erklären lässt sich das nur aus einer seit Generationen tradierten psychischen Konstitution. Die lässt das Individuum hemmungslos danach streben, an der rassisch-völkisch begründeten Vorherrschaft teilzuhaben, und erstickt jedes unvoreingenommene soziale Verhalten, das sich in diskriminierungsfreier Solidarität, Mitgefühl und Verantwortung manifestiert. Theweleit ist diesem fatalen Erbe in seinem 1977 erschienenen Buch Männerfantasien nachgegangen.
D) Erziehung zum Ungehorsam
Als eine der treibenden Kräfte der Veränderung im deutschen Sexualverhalten erkennt Herzog die APO/Studentenbewegung. Obwohl, wie sie mit Recht klarstellt, der Bewegung nur etwa 2000 Aktivisten im ganzen Land zuzurechnen sind. Aber die Wirkung ihrer Aktionen und Publikationen, vor allem die der Kinderläden, ist groß. „Die Kinderläden und vergleichbare Experimente zählten zu den größten konkreten Errungenschaften von APO & Studentenbewegung, und obwohl die Zahl der begeistert theoretisierenden radikalen Aktivisten klein blieb, regten die mit der antiautoritären Kindererziehung zusammenhängenden Vorstellungen die Fantasie weiter Kreise der 68er Generation sowie viele Liberale aus der älteren Generation an. Die Bewegung veränderte nicht nur die in Kindergärten, sondern auch die in Grundschulen geübte Praxis in der Bundesrepublik und beeinflusste in zahllosen Familien das Eltern-Kind- Verhältnis.“ (Seite 200)
Aus gegenwärtiger Sicht kann ich ergänzen: Noch heute zehren Kinder und Eltern von den Früchten der damaligen Bewegung. Deren Auswirkungen wurden erst kürzlich durch die statistische Auswertung des Mikrozensus 2013 deutlich. In der Frankfurter Rundschau vom 25./26.10.2014 wird davon berichtet. Eins der überraschenden Ergebnisse ist, dass 30 % der Eltern von deutschen Kindern nicht verheiratet sind. Beispielsweise in Frankfurt erziehen 22 % der Mütter ihre Kinder alleine (19 000 gegenüber 68 000 Ehepaaren mit Kindern). Der damalige Wunsch der Kinderladenbewegung, die Kleinfamilie als Grundlage der Kinderaufzucht abzulösen, hat im Laufe der vergangenen 45 Jahre erstaunlich weitreichenden Zuspruch gefunden. Als Kommentator dieser Mikrozensusresultate wird im genannten FR-Artikel Hans Bertram, emeritierter Professor für Mikrosoziologie an der Berliner Humboldt-Universität, zitiert, der Mitglied der Agendagruppe im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ist. Im Artikel sagt er: „Familien werden von der Politik immer nur aus Elternsicht betrachtet.“ Wenn man stärker von der Kindersicht ausgehen würde, wäre es egal, ob die Eltern verheiratet sind, oder nicht, sagt Bertram. „Hauptsache, die Kinder sind glücklich und leben nicht in Armut.“ Der Soziologe hält daher die Sorge um den Strukturwandel in der Familie für unangebracht, zumindest gesellschaftspolitisch.
Auf die Kindersicht in der Erziehung haben damals auch die Kinderladenbetreiber der APO gesetzt. Sie glaubten, die Kinder gegen autoritäre Persönlichkeitsstrukturen gefeit zu machen, wenn sie ohne einschränkende Einwirkung der Elternautorität der kindlichen ursprünglichen Entwicklungskraft im Kindergartenkollektiv zur Entfaltung verhalfen.
„Ganz allgemein hielt die Kinderladenbewegung die vormalige Übermacht der Eltern für das größte Problem.“ (S.208)
Orientiert an der freudianischen Faschismustheorie wurde der sogenannten analen Phase der Kindheitsentwicklung große Bedeutung beigemessen, also jenem Entwicklungsabschnitt, in dem das Kind die Ausscheidung seiner Exkremente noch nicht bewusst zu regulieren gelernt hat.
Dieser Lernschritt ist entwicklungspsychologisch offenbar sehr wichtig. Auf der Ausbildung dieser fundamentalen Verhaltenssteuerung baut nach den Lehren der Psychologen das Sauberkeitsstreben, die Ausprägung von Rigidität und Präzision im Denken und Verhalten eines Menschen auf. Mathematiker stehen beispielsweise unter dem Verdacht, Anal-Charaktere zu sein.
Dazu meine eigene Erfahrung:
Noch als Erstklässler, 25 Jahre bevor ich mein Mathematikdiplom erhielt, hatte ich meinen Schließmuskel noch nicht voll unter Kontrolle. Insbesondere die halbe Stunde Heimweg nach Schulschluss stellten für mich eine Herausforderung dar. Und ich erinnere mich, wie mir einmal mein fünf Jahre älterer Bruder, als ich mit vollen Hosen heimkam, diskret aus der Scheiße half. Dem Diskurs über Analcharaktere kann ich mich nur schwer entziehen.
Vertreter der antiautoritären Erziehung empfahlen, ein Kind seine frühen Entwicklungsphasen voll ausleben zu lassen, damit sich seine Persönlichkeit möglichst frei entfaltet. Die Vermeidung, Kinder zu früh an den Topf zu gewöhnen, war eine Maßnahme, um die Ausbildung autoritärer Charaktere zu verhindern. So auch im Kinderladen.
Herzog berichtet, wie ein Kindergartenerzieher stolz erklärt, dass eins der Kinder wieder in die Hose macht, obwohl es schon mal an den Topf gewöhnt worden war.(S.209)
In der frühkindlichen Phase so etwas wie einen Schalter umzulegen, um die zukünftige Persönlichkeit des Kindes autoritätsresistent zu machen, glaubte man auch im Bezug auf kindliche Sexualpraktiken anwenden zu können. Herzog beschreibt, wie in den Kinderläden bewusst die Neugierde der Kleinen auf die Sexualorgane nicht nur anderer Kinder, sondern auch auf die der Erwachsenen gefördert wurde. Auf den Seiten 204 bis 207 referiert Herzog Beispiele aus verschiedenen Kinderläden und die Diskussion darüber. Naiv glaubten die Erzieher offenbar an die reine unbeschwerte Selbstentfaltung der sexuellen Begierde in frühkindlicher Zeit.
Die Förderung zum libertären Umgang mit der Sexualität der Kinder zielte darauf, Tabus zu brechen. Doch hinter den Versuchen, die Lust der Kinder durch Beteiligung der Erzieher an geschlechtsbetonten Spielchen zu enthemmen, versteckten sich vielmehr bei nüchterner Betrachtung die Wünsche der Erwachsenen nach Enthemmung ihrer eigenen Sexualpraxis auf Kosten der Kinder. De facto verrieten die Kinderladenerzieher so nicht nur ihr Ideal, Kinder im Kollektiv sich selbst erziehen zu lassen, sondern legten damit Vertretern einer fortschrittlichen Pädagogik einen Fallstrick, der ihnen bis heute zu schaffen macht. Die Odenwaldschule ist dafür ein beredtes Beispiel. Aber auch die Tatsache, dass die Politiker der Grünen sich für die Propagierung solcher Grenzüberschreitungen noch Jahrzehnte später entschuldigen mussten. http://www.zeit.de/politik/deutschland/2013-09/trittin-gruene-paedophilie: „Jürgen Trittin hat 1981 presserechtlich das Kommunalwahlprogramm einer Liste in Göttingen verantwortet, das Sex zwischen Kindern und Erwachsenen unter bestimmten Bedingungen straffrei stellen wollte. Das schreibt der Politologe Franz Walter in der tageszeitung. Trittin bestätigte die Angaben und äußerte sein Bedauern.“ http://www.tagesspiegel.de/politik/paedophilie-debatte-bei-den-gruenen-trittin-unsere-position-muss-missbrauchsopfern-als-hohn-erscheinen/8801396.html : „In der Debatte um den Umgang mit Pädophilie in den Anfangsjahren der Grünen hat sich Spitzenkandidat Jürgen Trittin erneut entschuldigt: „Wir Grünen, mich eingeschlossen mit der Verantwortung, haben in den frühen Achtziger Jahren eine Position vertreten zur Pädophilie, die muss allen Missbrauchsopfern als Hohn erscheinen.“.“
Weniger, um die Abwege der Kinderladenbewegung in der Sexualerziehungspraxis aufzuzeigen, sondern um den Umgang der Erzieher eines Kinderladens mit der Holocaust-Verarbeitung anzuprangern, widmet Herzog folgendem Sachverhalt ihre Aufmerksamkeit.
Um zu begründen, dass sie, die Kinderladenpropagandisten, mit Recht auf die kollektive solidarische Selbsterziehungskraft von Kindern setzten, führten sie u. a. einen Bericht Anna Freuds und Sophie Danns aus dem Jahr 1951 über eine kleine jüdische Waisenkindergruppe aus dem KZ Theresienstadt an. Die Kinder wurden nach der Befreiung in einem britischen Heim betreut. Ihre Eltern waren kurz nach der Geburt ermordet worden. Dagmar Herzog schreibt (Seite 210) : „Was den Charlottenburgern [Kinderladenbetreibern und Verfassern der Schrift Kinder im Kollektiv - Ergänzung von mir] so gefiel, waren die außerordentliche Solidarität unter den Kindern und der Umstand, dass sie ihre libidinösen Bedürfnisse aufeinander richteten statt auf Erwachsene. Die Charlottenburger fühlten sich von diesem Fall inspiriert. Offenbar sahen sie darin den Beweis, dass eine intensive Mutter-Kind-Dyade in den ersten Lebensjahren für eine gesunde emotionale Entwicklung des Kindes nicht notwendig sei. ... In atemberaubender Naivität verglichen sie außerdem die drei- und vierjährigen in ihrem eigenen Kinderladen wohlwollend mit den Theresienstadt-Kindern. Die Arbeit mit den Charlottenburger Kindern habe gezeigt, dass auch Kindern, die zunächst in einer Kleinfamilie aufwuchsen, 'neue Verhaltensweisen und intensivere Beziehungen untereinander' möglich seien." (Seite 210).
So zu argumentieren hält Herzog für anstößig und fährt fort: „Die Umstände der faschistischen Vergangenheit und des Holocaust sind demnach nicht der Anlass, sich für antifaschistische Kindererziehung zu engagieren; vielmehr dient eine Handvoll Kinder, die den Holocaust überlebt hatte, zufällig als brauchbarer Beweis für ihre Überzeugung, dass die Kleinfamilie überflüssig sei. Doch die Zusammenstellung der Broschüre lässt sich auch anders deuten. Denn dass als zweiter Text Rapaports Israel Studie [Zur kollektiven Kindererziehung in den Kibbuzim in Israel, 1958 – Ergänzung von mir] und nicht irgendein anderes kommunistisches Kollektivexperiment, das man ebensogut hätte analysieren können, ausführlich behandelt wird, kann kein Zufall sein: Nur Juden, die Hauptopfer der eigenen Elterngeneration, konnten den moralisch akzeptablen Nachweis dafür erbringen, dass Eltern völlig überflüssig und Kinder ohne sie besser dran sind. Wenn aus diesem Dokument ein unbewusster Wunsch spricht, dann der (worauf Reimut Reiche 1988 verwies) nach Ermordung der eigenen Eltern.“ (Seite 211)
Herzog muss offenbar die familienlose Kinderaufzucht so abwegig erscheinen, dass sie glaubt, nur Antisemitismus hätte die Kinderladenerzieher dazu bewogen, ihre Ideen ausschließlich an jüdischen Opfern zu demonstrieren. Hier zeigt sich, was Herzog meint, wenn sie auf Seite 201 schreibt: „Wenn man das Eintreten der Kinderladen-Aktivisten für die kindliche Sexualität und ihre Kritik an der Familie ernst nimmt und untersucht, welch eigentümliche Rolle Nationalsozialismus und Holocaust in der Kinderladen-Literatur spielten, wird das auf komplexe Weise mittelbare Verhältnis von APO und Studentenbewegung zur NS Vergangenheit deutlich.“ Sie will sagen: Die 68er haben ein zwiespältiges Verhältnis zum Holocaust. Gerade denen, die in härtester Selbstreflexion den Ursachen der Grausamkeit des Faschismus bei sich und den Kindern nachzugehen versuchen, wirft sie vor, latent antisemitisch geblieben zu sein.
E) Sexualität macht frei
Herzog gelangt in diesem Abschnitt zu zwei wesentlichen Aussagen:
Erstens. Die antikapitalistische Stoßrichtung ihrer Systemkritik diente, psychoanalytisch gesehen, den westdeutschen Sexualrevolutionären letztendlich dazu, um die Verbrechergeneration ihrer Eltern von der Schuld am Holocaust zu entlasten. Nicht sie selbst, sondern das kapitalistische System habe sie in den Faschismus und damit in die Mittäterschaft am Völkermord getrieben.
Zweitens. Die 68er haben ein zwiespältiges Verhältnis zum Holocaust.
2012, also etwa 6 Jahre nach ihrem hier besprochenen Buch ‚Die Politisierung der Lust‘ hat Dagmar Herzog ein weiteres Buch über die Sexualität in Europa veröffentlicht.
In einem Interview, das Dagmar Herzog am 9. April 2012 zu ihrem neuesten Buch Sexuality in Europe gab, sagte sie: („Dagmar Herzog on her book Sexuality in Europe: A Twentieth-Century History“ Cover Interview of April 09, 2012 http://rorotoko.com/interview/20120409_herzog_dagmar_on_sexualty_in_europe/?page=3)
„The chapter I like best is about the sexual revolution of the 1960s to 1970s. In some ways, it’s the time period people feel they know best, but here too there are so many surprises. For example, the standard story we are now often told is that women were the losers of the revolution, nothing but sexual objects for commitment-phobic men. But actually it turns out that there were many men who had deep ambivalence about sexual freedom for women. I am also moved by the anguished disappointment of the activists of the Make Love Not War generation when it turned out that the consumer capitalism they reviled was a major factor in the liberalization of sexual mores they had been fighting for. And it is important to remember that discomfort with sexual liberties, and male annoyance at women’s demands for better heterosexual sex, were two key factors in what would become a renewed turn toward sexual conservatism. Although the forms in which disappointments were expressed were still rather inchoate, a backlash against the sexual revolution was already building—before anyone had ever even heard of the disease that would eventually be called HIV/AIDS.
[„Das Kapitel, das ich am meisten mag, behandelt die sexuelle Revolution der 1960 er bis 1970, eine Zeitspanne, über die die Leute glauben bestens Bescheid zu wissen. Dennoch finden sich hier so viele Überraschungen. Zum Beispiel hören wir immer wieder die Geschichte, Frauen wären die Verlierer der Revolution und nur noch Sexualobjekte verantwortungsscheuer Männer. Aber tatsächlich zeigt sich, dass viele Männer im Bezug auf die sexuelle Freiheit der Frauen tief verunsichert sind. Mich hat auch die schmerzliche Enttäuschung der Aktivisten der Make- Love-Not-War-Generation bewegt, als sich herausstellte, dass der von ihnen geschmähte Konsumentenkapitalismus bei der Befreiung von der Sexualmoral, für die sie gekämpft hatten, eine Hauptrolle spielte. Und wichtig ist, nicht zu vergessen, dass das Unbehagen an den sexuellen Freiheiten und die männlichen Abweisung von Forderungen der Frauen nach besserem heterosexuellen Sex sich als Hauptfaktoren dessen erwiesen, was zur erneuten Wende in Richtung sexuellem Konservativismus führte. Obwohl die Formen, in denen die Enttäuschungen sich ausdrückten, ziemlich kleinkariert waren, baute sich ein Rückschlag gegen die sexuelle Revolution auf, bevor irgendjemand jemals etwas von jener Krankheit gehört hatte, die dann HIV/AIDS genannt wurde.“ - Übersetzung von mir]
Die von ihr in dem Interview zu ihrem sechs Jahre später veröffentlichten Buch hervorgehobenen Aspekte sind jedoch in dem hier besprochenen Kapitel über die westdeutsche Sexualrevolution der 60er und 70er Jahre kaum zu erkennen. Weder die Enttäuschung der Linken über die Vereinnahmung ihrer Sex-Revolte durch den Konsumentenkapitalismus wird darin angesprochen, noch ist hier davon die Rede, dass deutsche Männer durch die gestiegenen Bedürfnisse der Frauen überfordert wurden. Vielmehr nimmt Dagmar Herzog die Besonderheiten der Kapitalismuskritik und Holocaust-Verarbeitung der 68er Sexrevolutionäre aufs Korn.
Als Genießer des von Helmut Kohl so fatal zynisch bezeichneten „Glücks der späten Geburt“ kann ich mit Berechtigung von jener Bedrückung sprechen, die das Mördererbe unserer deutschen Eltern bei mir und meinen damaligen Gesinnungsfreunden auslöste.
Kinder zu machen, war für uns ausgeschlossen. Meine Frau kam Ende der sechziger Jahre als französische Austauschstudentin nach Heidelberg. Geheiratet haben wir nur, um die finanziellen Vorteile des Ehestatus auszuschöpfen. Die Institution Ehe war uns nicht heilig. Wir lebten jahrelang in einer studentischen Wohngemeinschaft. Nach einigen Jahren wechselte ich aus in eine schwule Beziehungen. In einer solchen lebe ich seit dem Ende der siebziger Jahre bis heute.
Die Verzweiflung darüber, dass die Denk- und Lebensform, die zum Mord an Millionen Juden geführt hatte, von den Eltern noch bis in die Gegenwart unseres eigenen Erwachsenwerdens vertreten wurden, war so massiv, dass sich einige von uns das Leben nahmen.
Hat Dagmar Herzog in ihrer sexualhistorischen Untersuchung die besondere Situation der vaterlosen Trümmerkinder hinreichend berücksichtigt? Ihr kommt nicht in den Sinn, dass nicht nur Millionen Juden und zig Millionen Zivilisten der von den Deutschen überfallenen Länder, sondern auch die eigenen Kinder der Mördergeneration Opfer der Nazi-Verbrechen wurden. Die Tat eines Verbrechers schädigt außer den Opfern auch das Leben der Täter-Nachkommen nachhaltig.
Die Nachkriegskinder mussten sich, sobald sie mündig geworden waren, noch Jahrzehnte später der Verbrechen ihrer Eltern erwehren. Doch das findet bei Herzogs Sexualanalyse der aufmüpfigen Folgegeneration keine Beachtung. Stattdessen sucht sie in den Reihen der exponierten Studentenbewegung nach Beweisen für deren Bestrebungen, sich mit dem elterlichen Rassenhass zu arrangieren. Auf Seite 221 spricht sie sogar von einem zwiespältigen Verhältnis der 68er zum Holocaust.
Mit Stolz verweise ich darauf, dass wir, die kurz nach dem Zusammenbruch geborenen, in den sechziger Jahren gezwungen waren, unser Leben neu aus eigener Fantasie zu entwerfen. Es blieb uns nichts anderes übrig, wir mussten uns selbst erziehen. Das erklärt auch die starke Ausrichtung der Bewegung der aufsässigen Studenten auf das Thema der Erziehung.
Wie bewältigt man in einer vaterlosen Gesellschaft, ein Nachkomme von Massenmördern zu sein? Ein Zurück zu den Selbstverständlichkeiten der Familienstruktur war ausgeschlossen. Wir suchten und entwickelten selbständig neue Lebensentwürfe auf Basis von Entprivatisierung und Kollektivierung. Sie entstanden aus Versuchen - oder sollte ich besser sagen: aus der Illusion, unverdorbene frühkindliche Entfaltungskraft neu zu entfachen. Nach unseren Vorstellungen musste Privatheit als subtiler Bereich der Herrschaftsausübung transparent gemacht, ihrer verborgenen politischen Implikationen entledigt und in Öffentlichkeit neu politisiert werden.
Dagmar Herzog ist Amerikanerin. Sie wurde 1961 als Tochter des evangelischen Theologieprofessors Frederick Herzog in Norddakota geboren. Ihr deutschstämmiger Vater war einer jener liberalen Theologen, die sich um die sogenannte Befreiungstheologie bemühten. 1969 veröffentlichte er ein Buch mit dem Titel „Black Theology and Black Power“.
Für ihre Studien kam Dagmar über den DAAD nach Deutschland. Die von ihr beschriebene sexuelle Revolution hatte in Deutschland politische Bedeutung angenommen, noch bevor sie als Tochter einer weißen akademischen Mittelklassefamilie zur Zeit des Vietnamkriegs in die Pubertät kam. Als Nach-68erin und Amerikanerin ist ihre Sicht auf die sexuelle Revolution in Deutschland durch den kulturellen, zeitlichen und räumlichen Abstand geprägt. Als Historikerin ist sie auf entsprechende Quellen angewiesen. Doch hier ist sie ausgesprochen selektiv. Sie greift ausführlich Reimut Reiches (Selbst)Kritik der Studentenbewegung auf. Rudi Dutschke dagegen kommt nur spärlich, andere Köpfe der Bewegung wie beispielsweise Cohn Bendit kommen bei ihr gar nicht zu Wort.
Rudi Dutschkes Kritik an der Kommune 1, die er als unglückliche Neurotiker bezeichnete, findet Herzog nicht ausreichend. Sie findet, Rudi Dutschke, der auf Rufe gegen demonstrierende Studenten vom Straßenrand wie "ab in den Ofen", "euch sollte man vergasen" verwies, habe unangemessen argumentiert, „dass die neuen Linken den Platz der jüdischen Opfer einnahmen, was zu seiner [Dutschkes - Ergänzung von mir] Überzeugung passte, dass die in den sechziger Jahren zu beobachtende Feindseligkeit gegenüber der Linken an die Stelle des einstigen Antisemitismus getreten war." Dutschkes Reaktion zeige jedoch, „wie deutlich bereits Ende der sechziger Jahre – und nicht erst aus der zeitlichen Distanz – spürbar war, dass wieder einmal vornehmlich auf dem Feld der Sexualität um die deutsche Vergangenheit gerungen wurde.“ (Seite 220). Was sollen wir von dieser Feststellung der Sexual-Historikerin halten, die sich in ihren Studien über die westdeutsche Sex-Revolution der Linken besonders der Frage nach deren Verstrickung in die Holocaust Bewältigung widmet? Zumindest lässt sich daraus schließen, dass die Autorin in der neuen Linken eine überzeugende Faschismus- und Holocaustaufarbeitung vermisst. Sie geht noch weiter. Mit dem Soziologen Klaus Leggewie behauptet sie, „dass APO und Studentenbewegung zwar in der Entdeckung des Holocaust wurzelten, mit ihrem diffusen Faschismusgerede das spezifisch Deutsche und das spezifisch Jüdische am Holocaust jedoch verleugneten. Leggewie stellte fest: 'Über die Gründe der Verschuldung dieser Genese kann man nur spekulieren; womöglich war die Trauer über die Täter und Mitläufer, die eigenen Eltern nämlich, bei den Spätgeborenen größer als über die Opfer der 'Endlösung'.' "
Offenbar nimmt sie den Linken nicht wirklich ab, die Sexualrevolte auf ihre Art der antifamilialen Erziehung mit der Holocaust Aufarbeitung verknüpfen zu können. Bei Herzog bleibt von der linken Sexrevolte ein für sie unverständlich heftig ausgefochtener Generationenkonflikt übrig, in dem nach ihrer Auffassung mit Hilfe sexueller Überaktivität die für die Deutschen besondere Herausforderung der Holocaustbewältigung verdrängt wurde.
Aus eigener Erfahrung kann ich bestätigen, dass wir linken Studenten in unseren 20er Jahren auf dem Feld der Sexualität sehr wohl um die deutsche Vergangenheit gerungen haben. Unser sexuelles Begehren hat Schranken überwinden lassen, die uns von den Generationsvorgängern auferlegt worden waren. Als Heidelberger SDS Mitglied hatte ich 1976 kurze Zeit nach meinem Coming-out einen amerikanischen Juden als Freund, der sich von der besonders strengen orthodoxen Ausrichtung seiner Familie emanzipierte. Wir erfreuten uns aneinander etwa ein Jahr lang. Er arbeitete an seiner Doktorarbeit über sumerische Keilschrifttexte und ich beteiligte mich neben dem Studium an Arbeitskreisen, Flugblattaktionen und Demonstrationen. Unsere Beziehung überdauerte zahlreiche Diskussionen über die Belastungen deutsch-jüdischer Beziehungen. Ich erlebte unsere gemeinsame Liebeslust als geeigneten Ansatz, um persönlich die rassistischen Verbrechen der deutschen Eltern an seinen Vorfahren zu bewältigen. Auch ihm musste das ein Anliegen gewesen sein. Denn er entschloss sich, in Heidelberg zu arbeiten, obwohl er für seine Studien häufig ins Keilschriftarchiv des Britischen Museums nach London fliegen musste.
Herzog selbst verweist darauf, „wie groß die Schwierigkeiten waren, in einem Land, in dem nur eine Generation zuvor Lust so eng mit dem Bösen verstrickt gewesen war, eine sexuelle Revolution theoretisch zu untermauern, die Lust mit Güte und Sex mit sozialer Gerechtigkeit verknüpfen wollte.“ (Seite 221)
Dagmar Herzog bringt sich in den Verdacht, ihren Antisemitismusvorwurf gegen die westdeutsche Linke mit deren Empörung über den Krieg führenden Staat Israel und die Unterdrückung der Palästinenser zu begründen.
Dieselben Studenten, die mit Hilfe der antiautoritären Kindererziehung gegen die Verinnerlichung von rassistischen, völkermordenden Terror- und Herrschaftsstrukturen arbeiteten, wehrten sich auch gegen die Wiederbewaffnung Westdeutschlands, gegen die Atombewaffnung generell, gegen Notstandsgesetze, gegen den Vietnamkrieg und schließlich gegen die Bestrebungen ihres Verteidigungsministers Franz Joseph Strauß, teilzunehmen an den koordinierten Anstrengungen des Staates Israels und des südafrikanischen Apartheidregimes, mit Unterstützung der Amerikaner in den Besitz von Atomwaffen zu gelangen.
Die Situation der westdeutschen Linken in der politisch militärischen Gemengelage des Kalten Kriegs ignoriert Herzog und kommt auf Seite 215 lediglich zu dem Resultat: „den Linken war die Tatsache, dass Juden sich als fähige Militärs entpuppten, hingegen gar nicht geheuer.“ Und sie behauptet schlichtweg: „APO und Studentenbewegungen pflegten – und das gehört zu ihren beunruhigenden Aspekten – trotz ihrer Rebellion gegen die Werte der älteren Generation und, obwohl sie deren problematische Haltung gegenüber Juden erkannten, eigenes antijüdisches Gedankengut.“
Weiterhin behauptet sie, dass zu nachträglichen selbstkritischen Beurteilungen der deutschen Linken erst deutsche und amerikanische Juden hätten anregen müssen. Das sagt Dagmar Herzog, obwohl sie selbst darauf hinweist, dass die Studentenbewegung 1968 bereits ihren Höhepunkt erreicht hat. Ihr Zerfall und die Auflösungsprozesse in Richtungen der Maoisten, der DDR-KP, und der RAF, den Basissozialisten und Spontis, der Frauenbewegung und den Schwulen erlauben nicht mehr, die Bewegung nur noch einem systemkritischen, sozial- und sexualrevolutionären Konzept zuzuordnen und demzufolge für alle späteren Äußerungen verantwortlich zu machen. Das schlimme Beispiel des zu den Neonazis übergewechselten prominenten Anwalts der Bader-Meinhof-Gruppe Horst Mahler macht ihre Argumentation nicht weniger fragwürdig. Angesichts so mancher bedenklicher Entwicklungen des Staates Israel ist es unangebracht, im Rückblick unqualifizierte, aber auch fehlinterpretierte qualifizierte Statements aus der sog. Linken der 70er Jahre unbesehen zu einem generellen Antisemitismusvorwurf gegen die 68er zu verwenden, von denen viele weit mehr unter ihrem Verbrechererbe gelitten haben, als eine nichtjüdische amerikanische Professorentochter wahrhaben möchte.
Offensichtlich entgleitet ihr die Argumentationsführung, wenn sie auf Seite 221 schreibt: „Die kritischere Betrachtung des eher zwiespältigen Verhältnisses der Achtundsechziger zum Holocaust ist weitgehend unterdrückt worden oder in Vergessenheit geraten. Doch zumindest der Antisemitismusaspekt der westdeutschen Neuen Linken sollte bei den gegenwärtigen Bewertungen konsequent weiterverfolgt werden. Wir können bei dem Versuch, die ansonsten verwirrend nebeneinander her laufenden Tendenzen von Identifikation und Disidentifikation mit den ermordeten Juden zu klären, sogar noch einen Schritt weitergehen und uns in Erinnerung rufen, wie der Antipostfaschismus(!) von APO und Studentenbewegung ihren Antifaschismus formte.“
(Schon in Kapitel 3 auf Seite 170 definiert Herzog den Begriff Antipostfaschismus: „Tatsächlich müssen wir die Achtundsechziger trotz ihrer Selbststilisierung als antifaschistisch in erster Linie als antipostfaschistische Bewegung begreifen, als Protest dagegen, wie man sich nach dem Faschismus in Westdeutschland eingerichtet hatte.“)
Am Ende des Kapitels „Die Moral der Lust“ (Seite 222) schreibt sie „Da die sexuelle Revolution ebenso plötzlich in sich zusammenfiel, wie sie gekommen war (in den Medien wurde ihr Ende in den frühen Achtzigern verkündet), steht zu vermuten, dass die unschuldige Suche nach Lust bei weitem nicht ihr einziger Motor gewesen war.“
Sie selbst zieht in den vorangegangenen Abschnitten fragwürdige psychologische Interpretationen der linken Sexrevolte heran, wonach diese einmal durch die versteckte Absicht geleitet sei, ihre Eltern zu ermorden (S.211 – siehe oben), andererseits aber Kapitalismustheorien aufstellt, um ihre Eltern spitzfindig vom Genozidvorwurf freizusprechen (Sie bezieht sich auf Reimut Reiche, den sie auf Seite 217 ff zitiert.)
Herzog beendet das Kapitel mit der Anmutung, die Lust suchenden Sexualrevolutionäre von damals seien nicht allein von Unschuld getrieben gewesen.
Ist es nicht Herzogs selbst gestellte Aufgabe, die nicht unschuldigen Motoren der sexuellen Revolution herauszuarbeiten? Ihren Ansatz, die antiautoritäre Erziehung in den Kinderläden als herausragende Besonderheit der linken Sexrevolte in Deutschland hervorzuheben, desavouiert sie mit dem umständlich und unzureichend begründeten Vorwurf der ambivalenten Haltung gegenüber dem Holocaust und ihrem seltsamen Begriff des Antipostfaschismus.
Dem Begriffsanteil Post-Faschismus ist nicht zu entnehmen, wieviel Faschismus er noch brandmarkt. Das Begriffskonstrukt Antipostfaschismus höhlt die Substanz der systemkritischen Anti-bewegung beträchtlich aus und legt nahe, dass es sich letztendlich bei der Revolte nur um die Austragung eines geschichtslosen Generationenkonflikts handelte, bei dem am Ende politisches Engagement in enthemmten Sex ertränkt wurde.
Die Linke Sexualrevolte versuchte den latenten Fortbestand des Faschismus in Form autoritärer Persönlichkeitsmerkmale im höchst politisch verstandenen Bereich der Privat- und Intimsphäre zu bekämpfen. Dass sie die Anfälligkeit für NeoNazi-Gefolgschaft, Rassismus und Antsemitismus für die folgenden Generationen nicht beseitigt hat, wissen wir. Aber sie hat einen spürbaren Beitrag gegen diese Tendenzen geleistet, Dessen Wirkung sich nach meinem Dafürhalten darin zeigte, dass ein Kanzler Schröder um seine Wiederwahl fürchten musste, hätte er sich nicht gegen den Irakkrieg ausgesprochen.
Wie beschämend schwach andererseits die Abwendung von den negativen Leitbildern der Vergangenheit ausgefallen ist, zeigt die (nicht nur in den Ermittlungsbehörden) unsägliche Blindheit gegen über den NSU-Morden im Nach-Wende-Deutschland und das latente Fortbestehen jener Banalität des Bösen, nämlich gewissenlos und unbestraft das tun zu dürfen, was einem gesagt wird.
Angesichts der plakativen und provokativen Ausdrucksformen der sexuellen Revolution, die heute kaum noch jemanden aufregen, weil die sexuelle Kulturrevolution keinesfalls, wie die Historikerin behauptet, plötzlich zusammengefallen ist, verkennt Herzog die stillen, vielleicht nachhaltigeren Wirkungen des sexualrevolutionär beflügelten Begehrens.
Lassen Sie mich dazu ein Beispiel von der Antisemitismusfront aus der Gegenwart der inzwischen Enkelgeneration der Nach-Holocaust-Geborenen heranziehen und einen Zeitungsartikel zu aktuellen Ereignissen an Offenbacher Schulen zitieren. Die jüdische Allgemeine schreibt am 29. Oktober 2014: „Offenbachs Stadtschulsprecher Max Moses Bonifer ist nach Morddrohungen muslimischer Schüler von seinem Amt zurückgetreten. »Seit dem Gaza-Konflikt im Sommer haben mich arabisch- und türkischstämmige Jugendliche regelmäßig beschimpft, angespuckt und attackiert«, begründete der 18-Jährige seinen Schritt. »Nachdem sie mir auch ›Wir bringen dich um, Scheiß-Jude‹ hinterherrufen, ziehe ich jetzt aus Selbstschutz die Reißleine.«
Bonifer hatte als Stadtschulsprecher sämtliche Schulen in Offenbach vertreten. Nach seinen Angaben seien die Anfeindungen ausschließlich von muslimischen Jugendlichen ausgegangen, die die Gesamt-, Real- oder Hauptschulen der Stadt besuchen: »Es sind in verschiedenen Konstellationen rund 20 Täter, die mir in Offenbach regelmäßig aufgelauert haben.« Auch die Frankfurter Rundschau lässt ihn zu Wort kommen: „Er habe nichts gegen den Islam, seine Freundin sei muslimisch und er persönlich ein Anhänger einer multikulturellen Gesellschaft, in der Platz für alle Religionen sei. „Rechtspopulistisch wäre es, wenn ich sagen würde, es ist der Islam an sich, der nicht integrierbar ist, aber das glaube ich nicht.“
Ein 18jähriger Abiturient aus deutsch-jüdischem Hause in Offenbach lebt eine religiöse Kriegsfront überbrückende Beziehung zu seiner muslimischen Freundin. Seine Integrationsanstrengungen als Stadtschulsprecher gibt er resigniert aufgrund der gegen ihn persönlich gerichteten Todesdrohungen und Hassausbrüchen fanatisierter muslimischer Antisemiten auf, die im Zusammenhang mit der konfliktschürenden, die Palästinenser verachtenden Siedlungspolitik des israelischen Staates stehen. In dem Engagement dieses jungen Mannes sehe ich den Zusammenhang zur offenen, Brücken schlagenden Beziehungskultur der Bewegung von vor 45 Jahren.
Max Moses Bonifer sagt, dass er seine Integrationsbemühungen nicht aufgeben wird. Er hat offenbar begriffen, dass wir Rassismus nicht durch Gefällt-mir/gefällt-mir-nicht-Kommentare aus der Abstand wahrenden Beobachterperspektive bekämpfen, sondern durch konfliktfähiges und konfliktbewältigendes praktisches Zusammenleben, am besten durch engste persönliche, eben sexuelle Beziehungen. Es sind immer wieder die Julias und Romeos, die den Hass und den Krieg ihrer Montagues und Capulets mit der Kraft ihres Begehrens zu überwinden haben. Max Moses Eltern- und Großelterngeneration ist nun gefragt, ihm im Geist ihrer damaligen antirassistischen Sexualrevolution massive politische Unterstützung zu geben, um seine Anstrengungen zur Integration und Inclusion, die er sich auf die Fahnen geschrieben hat, an Offenbacher Schulen zu verwirklichen.