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Das Menschenei

Ebenezer Odanglu wurde von allen, die ihn kannten, nur Ebbi genannt. Er war elf Jahre alt, als er auf der Südseite des Computerschrottplatzes in der Nähe der Ghanaer Stadt Sogakofe nahe am Flussufer des Volta das große Ei entdeckte.

Er wohnte mit seiner Mutter in der Siedlung auf der anderen Seite der Deponie. Wie die meisten Kinder aus der Umgebung verbrachte er fast jeden Tag Stunden im Müll, um noch Nutzbares zu finden, was die erwachsenen Abfallverwerter zuvor übersehen hatten.

Vom Verkaufserlös dieser Reste an den Schrotthändler versuchte er die schmalen Einkünfte seiner Mutter, die auf dem Lebensmittelmarkt arbeitete, aufzubessern. Hier, direkt neben dem Elektroschrott waren auch Halden für den Plastikmüll aus dem Meer angelegt worden. Im Wochenturnus wurde der am Strand der Ada Foah Lagune zusammengetragen und mit Booten und dann per Handkarren her geschafft.

Genau hier war das dicke Ei in der Nacht mit einem Fallschirm niedergegangen. Der war allerdings defekt gewesen und hatte den harten Aufschlag seiner Last nicht ganz verhindern können. Doch der aufgehäufte Plastikmüll, auf dem das Ding aus dem Himmel zu landen kam, wirkte abpolsternd und machte ein lautes knirschendes Geräusch, als es da hinein fiel.

Das alles wäre in jener Nacht sicher dem Elfjährigen entgangen, wenn er denn hier draußen auf seiner provisorisch zusammengeschusterten Bettstatt seine Nachtruhe hätte finden können. Tage zuvor hatte er im Elektromüll eine Uhr gefunden, die von den professionellen Suchern wohl übersehen worden war.  Dazu die passende, noch nicht gänzlich entleerte Batterie zu beschaffen, war mit entsprechender Geduld nicht so schwer gewesen. Jedenfalls lief die Uhr jetzt an seinem Arm und er war stolz darauf. Es war zehn Minuten vor 2 Uhr morgens. Der Mond war in jener Nacht sehr hell. Ebbi wollte das Morgengrauen abwarten, um noch vor dem Schulunterricht nach verwertbaren Resten zu suchen, die  übersehen worden waren. Die Nacht war angenehm mild und er hatte sich auf einen Matratzenrest gelegt, der dort herumlag. Richtig einschlafen konnte und wollte er nicht, denn Ratten raschelten um ihn herum. Vor denen fürchtete er sich. Aber gebissen hatten sie ihn noch nicht. Dann war da plötzlich dieses heranbrechende Geräusch wie von einem gedämpften Knall. Ein riesiger Schleier verdunkelte den Vollmondhimmel und senkte sich langsam schwebend kaum 50 m von seiner Liegestatt entfernt auf die Halde nieder. Unwillkürlich hielt er seine Arme schützend über den Kopf.


Sofort trat wieder Ruhe ein. Ebbi wagte einen vorsichtigen Blick in Richtung des gespenstischen Geschehens. Im Mondschein erkennbar hob sich etwas aus dem Kleinteilemüll hervor, das wie ein Autodach aussah und ganz sicher dort vorher  nicht gewesen war. Denn die großen Abfallteile wurden immer nach der Anlieferung als erstes herausgezerrt und anschließend zerkleinert und verarbeitet. Nur die kleineren Stücke blieben hier, nachdem sie auf wertvolle Metallteile durchforstet worden waren.

Jetzt konnte er die Konturen von dem runden Gegenstand deutlich ausmachen. Er zögerte, dorthin zu gehen, weil es nicht hell genug war, um zu sehen, wo er hin trat. Aber seine Neugier siegte und er arbeitete sich behutsam vor, bis er dicht vor dem runden Ding stand, das so groß wie ein Lieferwagen war. Das riesige Tuch lag seitlich davon. Ebbi konnte sich keinen Reim auf das machen, was sich da vor ihm auf den Müll gelegt hatte. So etwas hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht gesehen. Er wurde Jetzt mutiger und trat so nahe heran, dass er es berühren konnte.

Es war kalt. Er schlug mit der flachen Hand dagegen, dann trommelte er darauf. An verschiedenen Stellen klang es unterschiedlich , aber nicht hohl. Wer in aller Welt wirft so etwas einfach auf die Elektro- oder Plastikdeponie? Vielleicht sind Metallteile, Kupferdrähte oder andere wertvolle Elemente darin.

Er zwängte sich um den runden Klotz herum und bemerkte, dass er auf dieser Seite aufgesprungen war. Der Spalt schien sogar von innen schwach erleuchtet. Darüber war Ebbi total verwundert und er versuchte, tiefer in den auf ganzer Breite gebildeten Schlitz hineinzusehen. Er stemmte sich gegen den Oberteil, um den Fremdkörper zu öffnen. Und tatsächlich gab der nach. Jetzt konnte er erkennen, dass darin  einiges in Unordnung geraten war. Zum Glück fiel der Deckel nicht wieder zurück, sondern öffnete sich sogar langsam weiter, so dass er tiefer hinein blicken konnte.

Was er darin sah, ließ ihn zurückschrecken. Es war etwas Lebendiges. Es bewegte sich. Er konnte daran Arme und einen Kopf ausmachen, umgeben von plastikartiger Folie oder so etwas ähnlichem wie Verpackungsmaterial. Aber plötzlich fing es darin an, Geräusche zu machen, die in einem deutlich erkennbaren Babygeschrei kulminierten – und zwar jetzt lauthals.

Ebbi wusste nicht, was er tun sollte. Er schaute sich nach allen Seiten um. Niemand war da. Ein Baby auf der Müllhalde, das konnte er sich gar nicht erklären. Er war ja kein Kriminalist, der gleich an einen Kindermordversuch gedacht hätte. Aber das Geschrei löste in dem Elfjährigen  Alarm aus. Jedenfalls schaute er nun tiefer in das Gehäuse, steckte seinen Kopf hinein, sah wieder die fuchtelnden Ärmchen und Beinchen von dem Schreihals und langte danach, sich weit vorstreckend, bis er das Kind zu fassen bekam.

Vorsichtig zog er es heraus. Es war splitternackt. Die Schutzbedürftigkeit des Kleinen überwältigte Ebbi. Und sofort schoss ihm durch den Kopf, dass es besser bei einer Mutter aufgehoben war, damit sie es versorgte. Der Junge nahm das Kind auf den Arm. Es war laut und schwer. Er wiegte es unwillkürlich an seiner Brust. Das beruhigte es.

Im Mondlicht konnte er erkennen, dass das Baby nicht normal war wie er. Es war weiß. Er schaute sich hilfesuchend nach einem Platz um, wo er es wenigstens einmal ablegen konnte. Doch da war nichts als sperriges, meist auch scharfkantiges Geröll aus Plastik, das zwar einer weichen Landung des Behälters zuträglich gewesen war, aber auf der nackten Haut zu Kratzern und Schnitten führte. Ebbi konnte es selbst kaum ertragen, nur mit Sandalen an den Füßen darin herumzustaken, wegen der Verletzungsgefahr. Das zarte Baby konnte er auf keinen Fall einfach ablegen, auch nicht für einen kurzen Moment. Und wenn er es kurzerhand dahin zurück brachte, wo er es hervorgeholt hatte?

Er drehte sich um, um einzuschätzen, ob und wie sich das machen ließe, musste aber feststellen, dass sich der Behälter lautlos wieder verschlossen hatte, während er sich des Kindes angenommen hatte. Jetzt blieb ihm keine Wahl. Das Kind hatte wieder zu schreien angefangen. Um es loszuwerden, musste er es raus aus der Deponie irgendwohin bringen. Ihm blieb nichts anderes übrig, als zu seinem Ruheplatz zurückzukehren, mit dem Baby beladen in die Knie gehend seine paar Sachen für die Schule aufzuheben, die er von zu Hause dorthin mitgebracht hatte, und damit Richtung Schulgebäude zu stapfen. Aber es war doch noch viel zu früh für die Schule.

Also ging er mit seinem herzerweichenden Problem auf dem Arm nach Hause zu seiner Mutter. Sie aufzuwecken besorgte schon das Schrei-Baby. Bald war die ganze Nachbarschaft alarmiert. Jeder überzeugte sich voller Anteilnahme von der Liebenswürdigkeit des kleinen Wesens und seiner ungewöhnlichen Farblosigkeit. Einige Erwachsene fanden das alles sehr bedenklich und überlegten, die Ortspolizei einzuschalten. Denn Weiße gab es hier in der Nachbarschaft nicht. Aber bei den Frauen siegte der Mutterinstinkt und unbesehen wurde das Kind von ihnen versorgt. Sie empfanden seine bleiche Haut und die asiatisch anmutenden Augen zwar etwas befremdlich aber keinesfalls abstoßend.

Die Männer ließen sich von Ebbi noch in derselben Nacht im Lichtschein von Taschenlampen zum Fundort führen und standen nun staunend vor dem seltsamen Containergebilde. Weil es so rund geformt war und ihm ein Menschenküken entsprungen war, kam einer auf die Idee, es Menschenei zu nennen. Das brachte ihm zustimmende Lacher der anderen ein. Da Ebbi erklärt hatte, dass das eiförmige Ding ja mal geöffnet gewesen war, versuchten die Männer es nun irgendwie aufzubrechen. Sie rückten ihm mit Brecheisen und schwerem Arbeitsgerät zu Leibe und mit aller Kraft schafften sie es, den Deckel, also die obere Hälfte der Verschalung anzuheben, um ins Innere zu gelangen.

Hoffnung trieb sie, Materialien darin zu finden, die sie für gutes Geld veräußern konnten. Darum kamen sie auch schnell überein, nichts von der Entdeckung weiter zu erzählen. Sonst würden sich die professionellen Elektroschrottausschlachter sicherlich dessen bemächtigen und an ihrer Stelle das Geld einstreichen, das damit zu machen war.

Also gingen sie in den frühen Morgenstunden einträchtig daran, das Ei, oder besser das, was seine Schale und die hinterlassenen Innereien ausmachten, auszuschlachten. Es stank darin. Vor allem als sie einige Schläuche herausrissen. Echter Kloakengeruch stieg auf. Da gab es einige Behältnisse und Flüssigkeiten, die keinesfalls einladend rochen, jetzt sogar schmierig den Boden bedeckten. Chemische Dämpfe stiegen auf. Einige Geräte, offenbar so etwas wie Pumpen, erschienen dagegen den Schatzsuchern verwertbar zu sein. Das meiste der herausreißbaren Teile mochte aus Plastik hergestellt sein. Es war größtenteils weich und elastisch. Metalle oder funktionierende Elektroteile fanden sie nicht. Dann suchten sie nach Aggregaten, die die Versorgung des Kindes ermöglicht hatten. Fehlanzeige. Schließlich wurde ihnen klar, dass das Ei eindeutig von einem Flugobjekt im Himmel gefallen, jedoch selbst aus eigener Kraft nicht flugfähig war. Es hatte keinen eigenen Antrieb.

 

Der herabgefallene eiförmige Babybrüter entstammte einer Versuchsreihe, die drei Jahre zuvor in einem geheimen Forschungsprojekt in Shanghai gestartet worden war. Es ging um die Aufzucht von Föten, die in einem irdischen Labor nahe an die Geburtsreife gebracht wurden. In einer Raumstation sollten sie ausreifen und geboren werden. Man hatte den Transport der Ungeborenen per Ballon und Raumgleiter gewählt, weil die zarten Wesen die Beschleunigung durch eine Rakete nicht überlebt hätten. Es herrschte erhöhter Zeitdruck, weil die Überführung unbedingt vor ihrer Geburt erfolgen musste. Dort draußen im Raum wurden sie als Neugeborene außerhalb irdischer Rechtssysteme gehalten. So konnten die Projektverantwortlichen sich Freiheiten mit ihnen herausnehmen, die auf Erden undenkbar waren.  Keins der Kinder wurde weder vor noch nach seiner „Geburt“ amtlich registriert. Sie waren bar ihrer menschlichen Grundrechte. Die organisierte Menschheit wusste ja nicht einmal, dass sie existierten bzw. dass sie geboren werden würden. Bei einem hatte bedauerlicherweise die Übernahme vom Ballon zum Raumgleiter, der sie zur Raumstation brachte, nicht geklappt. Shit happens.


Dort oben, wo der Babybehälter her kam, wurde er kaum vermisst. Denn es war bei der Lastenbeförderung im neuen preisgünstigen Raumtransportverfahren nun mal mit Verlusten zu rechnen. Das Duale System befand sich im Testbetrieb, es steckte - wie man so sagte – noch in den Kinderschuhen und war von einem zuverlässigen, sicheren Beförderungsweg noch meilenweit entfernt. Jede jetzt auf diesem Weg bewerkstelligte Verschickung war mit einem Verlustrisiko verbunden. Das wussten die daran arbeitenden Techniker und Ingeneure genauso wie das Institut, das den geheimen Lebendtransport in Auftrag gegeben hatte. Aber die Beförderung der noch ungeborenen Babys war unaufschiebbar gewesen. Ein üblicher Raketenstart war nicht mehr zu bewerkstelligen. Die Aufmerksamkeit, die ein Raketenlaunch geweckt hätte, musste unbedingt vermieden werden. Außerdem wäre der starke Schub beim Abheben von der Erde den sensiblen Kreaturen sicherlich nicht bekommen.

„Shit happens“, sagten sie lapidar, wenn etwas bei dem Transportmanöver verlorenging, und nahmen das auf die leichte Schulter, jedenfalls solange der eingesetzte Raumtransporter dabei schadlos blieb.

Der Babybrüter, der über der Ghanaer Küste verloren ging, war einer von insgesamt neunen, die in China hergestellt mit Föten bestückt worden waren. Sie sollten über das duale System, also mit Frachtballons und Orbitsammler, zu einer Raumstation gebracht werden . Sie entstammten einer Versuchsreihe, die vor drei Jahren in Shanghai gestartet worden war. Die Kinder waren als Föten in einem irdischen Labor bis an die Geburtsreife gezüchtet worden. Der chinesische Sondertransportauftrag erfolgte als Probelauf unter der Hand und war zur Geheimhaltung bestimmt. Als Test deklariert, war er kaum mit Verbindlichkeiten oder Auflagen verbunden. Das war auch den Auftraggebern recht. Dort draußen im Raum waren die Neugeborenen außerhalb irdischer Rechtssysteme und die Projektverantwortlichen konnten sich Freiheiten herausnehmen, die auf Erden undenkbar waren. Dazu gehörte, dass keins der Kinder weder vor noch nach seiner „Geburt“ amtlich als neuer Mensch registriert wurde und somit bar seiner menschlichen Grundrechte war. Die organisierte Menschheit wusste ja nicht einmal, dass sie existierten bzw. dass sie geboren werden würden.

Die neun Lastenbündel hingen einzeln an dem auf 35.000 m aufgestiegenen Zeppelin-ballon-verbund. Der Raumgleiter, der die unterhalb der Zeppeline hängende Fracht in dieser Höhe abgreifen und einsammeln musste, hatte Schwierigkeiten, alle neun in einem Durchgang zu erwischen. Er kollidierte mit einem über der Stratosphäre baumelnden Container. Dessen Tragseile hatten sich verstrickt und sträubten sich hartnäckig dagegen, in die Ladeluke des Sammlers gezogen zu werden.

Den Piloten des Raumtransporters blieb nichts anderes übrig, als die Aufhängung des einen Frachtstücks zu kappen und das Lastpaket seinem Schicksal zu überlassen. Weitere Auffangmanöver hätten nur die gesamte Fracht in Gefahr gebracht und den Raumgleiter noch dazu. Jeder der neun Container war zwar mit einem Fallschirm und einem Ortungssystem ausgestattet. Aber die Tansportfirma war auf globale Suchaktionen  nach zur Erde zurückgefallenen Objekten nicht eingerichtet. Das hielt man letztlich auch nicht für nötig. Obwohl die Projektverantwortlichen davon ausgingen, dass so ein Missgeschick der internationalen Überwachung des erdnahen Bereichs nicht entgangen sein konnte, hielten sie es nicht für opportun, mit großem Aufwand dem verloren gegangenen nachzujagen. Die Überwachungsbehörde war machtlos. Ihre Beschwerden verliefen üblicherweise im Sande. Schließlich bestanden bekanntlich zwei Drittel der Erdoberfläche aus Wasser und nur ein geringer Prozentsatz des Festlands war von Menschen dicht besiedelt. Die Gefahr, bei ihnen auf der Erde Unheil anzurichten, wurde schon allein aus diesem Grunde als äußerst gering eingeschätzt. Sie war nicht größer als die, die von einem unvollständig verglühten Rest einer Satellitenruine ausging. Selbst wenn die Mittel und das Personal zur Verfügung stand, so die Weltraumtransportunternehmer, war es das abhanden gekommene Objekt nicht wert, einen politischen oder gar militärischen Konflikt durch den Einsatz einer Such- und Eingreiftruppe auf fremden Territorium zu riskieren.

Das Baby, das Ebbi aus dem Rundei in der Mülldeponie geborgen hatte, konnte von Glück reden, dass es von Ebbis Mutter Arana ohne Umschweife als menschliches Wesen akzeptiert und versorgt wurde. Obwohl noch keineswegs klar war, wie sie den kleinen Mitesser in ihrem Haushalt verkraften würde. Sie war von dem weißlichen Strampler so angetan, dass sie der Meldestelle erzählen wollte, das Kind selbst zur Welt gebracht zu haben, es sei also ihres. Für dessen weiße Hautfarbe hatte sie keinerlei Erklärung  vorzuweisen. Das Findelbaby aufzunehmen war ganz im Sinne von Ebbi, der sich als Entdecker des Kleinen sowieso schon als großer Bruder fühlte.


Unter den Nachbarn, die der Junge zum Riesenei geführt hatte, gab es erfahrene Müllverwerter, die sich angestrengt Gedanken über das Material des Babybrüters machten. Zunächst waren sie enttäuscht, dass sie keine Metallteile fanden. Dann vermutete aber einer, dass das für die Außenhaut verwendete Material – es ließ an Kunststoffkarosserien von Autos denken - sogar hochwertiger als Metall war. Sie versuchten Stücke davon herauszubrechen oder Schnipsel abzuschneiden. Aber das Zeug schien unzerstörbar zu sein.

Doch die Leute waren ja nicht dumm hier. So ärmlich die Lebensverhältnisse neben der Deponie auch waren, so unentwegt suchten sie danach, sich das harte Leben zu erleichtern. Sie experimentierten mit Chemikalien, die sie schon früher zur Zersetzung von Computergehäusen und organischen Bausubstanzen verwendet hatten. Auf diese Weise vermochten sie ein paar Stücke aus der Menscheneischale herauszulösen.

Mit entsprechendem Geschäftssinn zeigten sie sie ihrem üblichen Abnehmer von weiterverwertbarem Abfall und sprachen von einem wertvollen Sonderposten. Der Schrotthändler ließ das Material analysieren und kam zu dem Urteil: Sehr interessant. Er wollte natürlich gleich wissen, wo sie das Zeug herhatten. Aber die Müllanbieter fragten nur: „Wie viel für wie viel?“

Die Verdienstmöglichkeiten, die sich jetzt den Bewohnern der Mülldeponierandsiedlung auftaten, überstiegen ihre Erwartungen. Sie wussten sofort, was sie als Erstes zu tun hatten: Das Ei vor Dieben schützen. Hektik kam auf. Jetzt hing alles davon ab, dass sie zusammenhielten, sich nicht verplapperten und möglichst schnell die Beute in handhabbare Stücke brachen, gut versteckten und günstig verkauften.

So kam es, dass das weiße Chinesenbaby am Ende seinen Findern als Glücksbringer galt, weil es mit seiner Eierschale die Grundlagen für die eigene materielle Versorgung mitbrachte. Ebbi ging nach der aufregenden Nacht noch am selben Morgen zur Schule und konnte sich nicht verkneifen, von dem gefundenen Baby zu erzählen. Jedoch von dem Ei, so wie ihm eingetrichtert worden war, ließ er kein Sterbenswörtchen verlauten. Ebbi und seine Mutter wurden immer wieder gefragt, wo genau sie denn das Kind gefunden hatten. Denn einige meinten, dass man das der Polizei melden musste. Wie es denn heißen sollte, fragten sie. „Nanu“, gab Ebbis Mutter als Antwort.
„Du musst es untersuchen lassen“, drängten sie dann. Doch Arana ließ sich nicht beirren. Ihr war es gelungen, das Kind zufriedenzustellen, alles Weitere werde man sehen, beschwichtigte sie die Wichtigtuer.


Schließlich sorgte Ebbis Lehrerin dafür, dass das Kind amtlich registriert wurde. Um auf das Baby aufpassen zu können, hatte Ebbi es sogar einmal mit in die Schule genommen, was die Lehrerin zwang, einer Unterrichtseinheit „Chinesenkind zum Angucken aber nicht zum Anfassen“ einzuschieben.

Der Verwaltungsbeamten, dessen hell ergrautes Haar wunderbar mit seinem ebenholzfarbenen Gesicht kontrastierte, machte keine Schwierigkeiten, es ordnungsgemäß als Mutter Aranas zweiten Sohn einzutragen. Sie entschloss sich dazu, obwohl der kleine Chinese Gene in sich trug, über deren Herkunft sie nicht die geringste Ahnung hatte.